B.                          Schulze Schwienhorst                    Haftpflichtonlineportal, 1. Edition, Stand 31.07.2016

2. Allgemeines zur Abtretung

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§ 108 Abs. 1 Satz 1 VVG normiert, dass jede Verfügung, die der Versicherungsnehmer über seinen Freistellungsanspruch gegen den Versicherer trifft, dem geschädigten Dritten gegenüber unwirksam ist. Unter „Verfügung“ versteht man jedes Rechtsgeschäft, durch das ein Recht übertragen, belastet, aufgehoben oder inhaltlich verändert wird.[1] Die Abtretung (Übertragung der Forderung auf einen neuen Gläubiger) stellt eine ebensolche Verfügung dar.[2]

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§ 108 Abs. 1 Satz 1 VVG normiert ein gesetzliches Verfügungsverbot mit relativer Wirkung (vgl. § 135 BGB).[3] Relative Verfügungsverbote entfalten nur Wirkung zugunsten bestimmter – konkret schutzbedürftiger - Personen.[4] § 108 VVG schützt den geschädigten Dritten, der die Verfügung des Versicherungsnehmers über den Freistellungsanspruch nicht gegen sich gelten lassen muss. Er wird so gestellt, als hätte der Versicherungsnehmer die Verfügung nicht vorgenommen. Somit kann der Dritte den Freistellungsanspruch beispielsweise jederzeit pfänden und sich überweisen lassen (§§ 829, 835 ZPO).[5] Die Möglichkeit der Abtretung des Freistellungsanspruchs an den Dritten kann nicht durch AVB ausgeschlossen werden, vgl. § 108 Abs. 2 VVG. Auch ein in AHB geregeltes, generelles Abtretungsverbot des Freistellungsanspruchs wäre unwirksam. Eine geltungserhaltende Reduktion auf den Inhalt, dass eine Abtretung grundsätzlich unzulässig (mit Ausnahme der Abtretung an den Dritten) sei, darf nicht vorgenommen werden.[6] So kann der Versicherungsnehmer trotz eines in AHB festgesetzten Abtretungsverbotes seinen Haftpflichtanspruch gegen den Versicherer an den geschädigten Dritten abtreten. Der Dritte kann dann den Versicherer aus abgetretenem Recht (vgl. § 398 BGB) direkt in Anspruch nehmen.[7]

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Eine entsprechende Regelung enthalten die Muster-AHB des GDV in Ziffer 28. Sie trägt den Interessen des Versicherungsnehmers und des geschädigten Dritten hinreichend Rechnung. Der Versicherungsnehmer kann daran interessiert sein, dass sich der Dritte hinsichtlich der Schaden- und Anspruchsabwicklung direkt an den Versicherer und nicht an ihn wendet. So könnten durch einen Direktanspruch etwaige Nachteile des Dritten, die aufgrund seines ungenügenden Einblicks in das Deckungsverhältnis möglicherweise bestehen, vermieden werden.[8]

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Beispiel:

Der Aufsichtsrat eines Unternehmens macht einen Schadenersatzanspruch aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG gegen seinen Vorstand geltend. Beide Parteien werden ein Interesse daran haben, die geschäftliche Beziehung nicht durch die Führung eines Haftpflichtprozesses weiter zu belasten. Der Vorstand tritt seinen Freistellungsanspruch gegen den Versicherer folglich an das geschädigte Unternehmen ab.[9]

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Vor der VVG-Reform bewertete die Rechtsprechung die Berufung eines Versicherers auf ein in AHB vereinbartes Abtretungsverbot teilweise als missbräuchliche Rechtsausübung (§ 242 BGB), soweit die Berufung nicht durch ein berechtigtes Interesse seinerseits gedeckt war.

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Die Abtretung des Freistellungsanspruchs an das geschädigte Unternehmen bewirkt nach neuster Rspr. des BGH keine Zweifel an einer "ernsthaften Inanspruchnahme". Eine ernsthafte Inanspruchnahmen in dem Sinne, dass ein Zugriff auf das persönliche Vermögen des Schädigers beabsichtigt ist, stellt zudem keine Voraussetzung für den Eintritt des Versicherungsfalles dar, wenn das Anspruchserhebungsprinzip einem Versicherungsvertrag zugrunde liegt. § 108 Abs. 2 VVG stellt gerade klar, dass der Versicherungsnehmer oder die versicherte Person den Anspruch ohne weitere Bedingungen an den geschädigten Dritten abtreten kann. Dies gilt folglich auch dann, wenn der geschädigte Dritte die Inanspruchnahme nur im Hinblick auf eine mögliche Versicherungsleistung betreiben sollte.[10]

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Durch die gesetzliche Neuregelung im Zuge der VVG-Reform hat der Gesetzgeber diese Bewertung berücksichtigt und ein präventives Verbot statuiert. Individualvertraglich können Versicherer und Versicherungsnehmer jedoch weiterhin sowohl bei Abschluss des Versicherungsvertrages als auch nach Eintritt des Versicherungsfalls ein Abtretungsverbot bezüglich des Freistellungsanspruchs vereinbaren.[11] § 108 Abs. 2 VVG bezieht sich dem Wortlaut nach ausdrücklich nur auf Regelungen in Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Zudem geht die Gesetzesbegründung von der Wirksamkeit eines durch Individualvereinbarung getroffenen Abtretungsverbots aus.[12]

Zur Vertiefung:


[1]   BGH NJW 1980, 175, 176.

[2]   Vgl. Roth/Kieninger in Münchener Kommentar zum BGB, § 398 Rn. 2.

[3]   Begr. RegE BT-Drucks. 16/3945 S. 86.

[4]   Vgl. Armbrüster in Münchener Kommentar zum BGB, § 135 Rn. 1.

[5]   Retter in Schwintowski/Brömmelmeyer, § 108 Rn. 1.

[6]   Siehe Grüneberg in Palandt, § 306 Rn. 6 mit Verweis auf die stRspr. des BGH.

[7]   Begr. RegE BT-Drucks. 16/3945 S. 86 f.

[8]   Begr. RegE BT-Drucks. 16/3945 S. 87.

[9]   Siehe dazu umfassend Grooterhorst/Looman NZG 2015, 215.

[10]   BGH Urt. v. 13.04.2016, IV ZR 51/14 Rn. 39.

[11]   Begr. RegE BT-Drucks. 16/3945 S. 87.

[12]   Begr. RegE BT-Drucks. 16/3945 S. 87.

Zitiervorschlag: Schulze Schwienhorst in Haftpflichtonlineportal, Stand 31.07.2016, B. Rn. x

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