B.                          Schulze Schwienhorst                    Haftpflichtonlineportal, 1. Edition, Stand 31.07.2016

c) Was passiert, wenn die Versicherungssumme überschritten wird?

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§ 101 Abs. 2 VVG besagt, dass der Versicherer Abwehrkosten, die auf seine Veranlassung hin aufgewendet werden, auch dann zu ersetzen hat, wenn sie zusammen mit den Aufwendungen zur Freistellung des Versicherungsnehmers die Versicherungssumme überschreiten. Gegebenenfalls trifft den Versicherer also eine über den Höchstbetrag hinausgehende Leistungsverpflichtung. Die Anknüpfung der Leistungserweiterung an die Veranlassung des Versicherers entspricht dem Grundgedanken der Haftpflichtversicherung aus § 100 VVG. Denn danach liegt das Abwehrrisiko eines gegen den Versicherungsnehmer erhobenen Anspruchs auf Seiten des Versicherers. Könnten Verteidigungskosten generell auf die Versicherungssumme angerechnet werden, würde eine Risikoverlagerung zulasten des Versicherungsnehmers für solche Fälle herbeigeführt, in denen die Versicherungssumme infolge einer Anspruchsabwehr überschritten würde.

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Die Verpflichtung des Versicherers zur Anspruchsabwehr wird immer dann ausgelöst, wenn der Versicherer den gegen den Versicherungsnehmer erhobenen Anspruch für unbegründet hält und daher eine Befriedigung des Anspruchs ablehnt.[1] Seiner Abwehrverpflichtung kommt der Versicherer durch Führung des Rechtsstreites nach; der Rechtsstreit wird folglich auf Veranlassung des Versicherers geführt. Die Veranlassung des Versicherers ergibt sich i.d.R. aus einer ausdrücklichen Erklärung vor Beginn des Rechtsstreits. Alternativ reicht es aus, dass der Versicherungsnehmer die Rechtsstreitführung bei seinem Versicherer beantragt und dieser sich damit einverstanden erklärt. Auch in diesem Fall ist von einer Veranlassung des Rechtsstreits durch den Versicherer auszugehen. Folglich kann die Veranlassung zur Führung des Rechtsstreits durch den Versicherer ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Eine konkludente Veranlassung liegt auch in der Beauftragung eines Rechtsanwalts durch den Versicherer.

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Entscheidet der Versicherer sich für die Abwehr eines begründeten Anspruchs und entstehen wegen der verzögerten Befriedigung des Dritten Zinskosten, so hat der Versicherer diese auch dann zu ersetzen, wenn die Versicherungssumme überschritten wird, vgl. § 101 Abs. 2 Satz 2 VVG. Auch an dieser Bestimmung zeigt sich, dass das Risiko der Anspruchsabwehr nach dem gesetzgeberischen Willen auf Seiten des Versicherers liegt. Die Zuweisung der Zinskosten zum Versicherer gilt ohne Exkulpationsmöglichkeit. Ein Verschulden des Versicherers bei der Verzögerung der Befriedigung des Haftpflichtanspruchs stellt keine Voraussetzung dar. Die verzögerte Erfüllung seiner Leistungsverpflichtung ist für den Versicherer i.d.R. nicht mit wirtschaftlichen Risiken verbunden. Der Haftpflichtversicherer wird bei Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs gegen den Versicherungsnehmer bilanziell die mögliche Forderungshöhe als Aufwand buchen und eine sog. Reserve bilden. Diese Reserve steht dem Versicherer als wirtschaftliches Eigentum uneingeschränkt zur Verfügung. Er muss diese Reserve zwar nach spezifischen bilanzsteuerrechtlichen Vorgaben bewerten. Die Reserve ermöglicht aber vielleicht einen Gewinn aus den rückgestellten Kapitalbeträgen. Der Realisierung dieser Gewinne stehen aber möglicherweise geltend gemachte Zinsforderungen wegen verzögerter Erfüllung der Leistungsverpflichtung entgegen.

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Ob die Möglichkeit besteht, eine fehlende Veranlassung des Versicherers mittels einer nachträglichen Genehmigung zu heilen, ist in § 101 VVG nicht geregelt.[2] Eine fehlende Abstimmung mit dem Haftpflichtversicherer im Vorfeld eines Rechtsstreits dürfte in der Praxis allerdings einen seltenen Ausnahmefall darstellen. Tatsächliche Bedeutung erlangt diese Frage nur dann, wenn der Versicherungsnehmer erst deutlich verspätet vom Bestehen eines Haftpflichtvertrages Kenntnis erlangt hat (z.B. verspätete Kenntnis des Insolvenzverwalters über das Bestehen einer umfänglichen Haftpflichtversicherung). Ob aufgrund der fehlenden gesetzlichen Regelung eine vorab unterbliebene Veranlassung von Seiten des Versicherers bei einer Ablehnung der erweiterten Leistungspflicht nach § 101 Abs. 2 Satz 1 VVG zu einer nachträglichen Erhöhung der Leistungsverpflichtung führt, ist fraglich. Vielmehr erscheint es sinnvoll, auf solche Fallgestaltungen die gesetzlichen Leitlinien des Obliegenheitsrechts anzuwenden.[3] Soweit die nicht eingeholte „Veranlassung“ des Versicherers dem Versicherungsnehmer anzulasten ist und zu einer Verschlechterung der Verteidigungsposition des Versicherers geführt hat, sollte eine nachträgliche Erhöhung seiner Leistungsverpflichtung abgelehnt werden. Trifft den Versicherungsnehmer dagegen kein maßgebliches Verschulden und verschlechtert sich durch die verspätete Einbindung des Haftpflichtversicherers auch nicht dessen Verteidigungsposition, so ist die fehlende Veranlassung als heilbar i.S.d. § 101 Abs. 2 VVG einzustufen.

 

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[1]   Siehe dazu VVG-Kommission Abschlussbericht 2004 (VersR-Schriftenreihe Heft 25), S. 78 f.

[2]   Bejahend Koch in Bruck/Möller, § 101 Rn. 44; Lücke in Prölss/Martin, § 101 Rn. 26.

[3]   Zustimmend Littbarski in Langheid/Wandt, § 101 Rn. 78; a.A. Koch in Bruck/Möller, § 101 Rn. 44.

Zitiervorschlag: Schulze Schwienhorst in Haftpflichtonlineportal, Stand 31.07.2016, B. Rn. x

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